Januar 29, 2021 Matthias Weber

Illusion der Gewissheit

Wie wahrscheinlich ist Gott? «67%», sagt ein Wissenschaftler*.

So ein Unsinn! Die Wahrscheinlichkeit, dass es Gott gibt, lässt sich nicht berechnen. Hingegen können wir problemlos berechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Roulettekugel auf die Sieben fällt oder wir einen Sechser im Lotto haben.

Bei Roulette und Lotto bewegen wir uns in einer Welt vollständiger Gewissheit. Das Risiko lässt sich berechnen. Statistisches Denken und Logik reichen aus.

Als Anleger in einem Börsencrash, wie auch als Tennisspieler mit einem Matchball in der Hand, bewegen wir uns in einer Welt der Ungewissheit.
In einer ungewissen Welt ist nicht alles bekannt. Die Datenlage ist dürftig und verändert sich ständig. Die beste Alternative und deren Erfolgs-Wahrscheinlichkeit lässt sich somit nicht berechnen.

In einer Welt der Ungewissheit scheitern komplexe Modelle. Sie gehen fälschlicherweise von bekannten Risiken aus und liefern exakte Wahrscheinlichkeiten. Diese Genauigkeit erzeugt eine gefährliche Illusion der Gewissheit:

1998 vertraute der Hedge Fund LTCM, mit zwei Nobelpreisträgern an Bord, so sehr auf seine quantitativen Arbitrage-Modelle, dass er mit einem hohen Fremdkapital-Hebel von 25 arbeitete. Die Rubel-Krise löste eine Flucht in sichere Häfen aus, das Leverage explodierte auf über 200, der Fonds kollabierte. Dessen Manager lancierte kurz darauf einen neuen Fonds, konnte 250 Millionen Dollar einsammeln, wendete dieselben Strategien wie bei LTCM an – und scheiterte in der Finanzkrise von 2008 erneut.

In einer ungewissen Welt sind Logik und Mathematik nicht ausreichend.

Solche Modelle funktionieren nur, wenn alles seinen gewohnten Verlauf nimmt, sich die Trends der Vergangenheit fortsetzen. Sie versagen genau dann, wenn es darauf ankommt: in der Rubel-Krise, der Subprime Krise, der Euro-Krise, der Corona-Krise.

Ein Modell, das die Realität fast richtig abbildet, macht deshalb noch lange nicht fast richtige Prognosen. Es kann trotzdem völligen Unsinn produzieren. Denn es sind viele Faktoren unter so grosser Ungewissheit zu schätzen, dass enorme, unkontrollierbare Schätzfehler resultieren. Das Modell wird zu instabil.

Je grösser also die Ungewissheit, desto mehr sollten wir vereinfachen.

Eine Kombination einfacher Faustregeln verbunden mit Erfahrung, Wissen und Intuition der Entscheidungsträger, verspricht bessere Resultate.

Solche Faustregeln sind nicht auf Prognosen angewiesen. Ihre Konsequenzen lassen sich auch für Laien einfach abschätzen: «Aktien rentieren langfristig besser als Anleihen», «ein Aktienmarktcrash von über 50% ist ein Kaufsignal», «halte genug Liquidität für drei Jahre».

Transparenz führt zu mehr Sicherheit. Komplexität zu Katastrophen.

Fazit: Je ungewisser eine Situation und deren Ausgang, desto eher sollten Sie auf Intuition und Faustregeln vertrauen, hingegen Modelle auf die Seite legen.

* Dr. Stephen Unwin in “The Guardian” vom 8. März 2004

Hintergrundinformationen für Interessierte:

Kay, John; King, Mervyn (2020): Radical Uncertainty: Decision-Making Beyond the Numbers. W. W. Norton & Co.

Gigerenzer, Gerd (2014): Risk Savvy: How to Make Good Decisions. Viking Hardcover.

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